Ein Kind wird geboren. Was haben sich die Eltern nicht schon alles überlegt! In jeder Hinsicht soll es ihm gut gehen, die materielle Versorgung ist gesichert und man ist sich einig, dem Kind viel Zuwendung, Anregung und Zeit zu widmen. Doch ahnen wir wirklich die Bedeutung der Erziehung in den ersten Lebensjahren? Wissen wir, was es heisst, ein Kind so ins Leben einzuführen, dass es in unserer Welt besteht? Der Erzieher hat es in den Hand, ob ein seelisch ausgeglichener Mensch heranwächst, oder ob sich in seinem Gemüt eine Fehlentwicklung anbahnt. Das Wissen darum macht Erziehen nicht einfacher, sondern weist auf die grosse Verantwortung der Eltern hin. Dies um so mehr, als wir uns vor Augen fuhren müssen, dass Eltern weniger aus einer bewussten Haltung heraus an die Erziehung ihres Kindes gehen als vielmehr mit unbewussten Überzeugungen und Gefühlen.
In den ersten Lebensjahren entscheidet es sich, wieviel Mut, Selbstvertrauen, Zutrauen in die eigenen Kräfte und Selbstwertgefühl ein Kind für sein späteres Leben haben wird. Die Erlebnisse in der Schule bauen auf dieser emotionalen Grundlage auf.
Was wäre ein Kind ohne seine Eltern? Was wurde aus ihm, wenn die Eltern sagen wurden: «Nun, du bist ein Jahr alt, also lebensfähig. Wir ziehen uns jetzt zurück und überlassen dich dem Zufall. Für Essen und Kleidung schauen wir noch, auch fürs Schlafen, aber sonst wollen wir dich nicht mehr beeinflussen. Wir wollen dich nicht einschränken. Wähle nun selbst, was und wie du essen willst, ob du zum Arzt willst, wenn du krank bist, wie und wann du zur Schule gehen möchtest, was du im Fernsehen schauen möchtest, ob du Drogen nehmen willst und welche... Du darfst nun selbst entscheiden, ob du deine Wutanfälle an kleineren Kindern auslassen willst oder lieber unsere Wohnung ruinierst . . Du bist ganz frei, denn wir woIlen dich keinesfalls durch psychischen Druck terrorisieren. Wir wollen antipädagogische Eltern sein und wissen eh nicht, was dir schadet oder gut tut.»
Die Skizze wird jedem komisch vorkommen, aber nur deshalb, weil sie überzeichnet ist. Eltern werden jedoch von allen Seiten mit Gedanken überflutet, dass Erziehung Zwang, Seelenmord oder Terror sei. Besonders Schule und Lehrer sind so stark unter Beschuss geraten, dass Eltern zweifeln, ob sie dem Kind nicht schaden, wenn sie selbstverständlich darauf bestehen, dass es in die Schule geht, dort lernt und auch Leistungen erbringt.
Eltern sind Erzieher, sie wirken auf das Kind ein, ob sie es wollen oder nicht. Die Frage kann daher niemals lauten, ob ein Kind zu erziehen sei, sondern nur wie dies geschieht. Die Antipädagogik weicht dieser Fragestellung aus und lässt das heranwachsende Kind im Stich. Um in unserer Welt ein konstruktiver Mitspieler zu werden, muss das Kind mit den vielfältigsten Fähigkeiten und charakterlichen Eigenschaften ausgerüstet sein, denn auf ein Paradies trifft es nicht. Vergessen wir nicht, dass wir in unserem Jahrhundert schon zwei Weltkriege erlebt haben, Millionen Menschen an Hunger sterben und neue Diktatoren in den Startlöchern stehen, nur den Augenblick abwartend, ganze Völker zu unterjochen.
Eltern haben die Aufgabe, dem Kind die Mitmenschen und die Welt zu vermitteln, so, dass es sie verstehen und sich darin orientieren lernt. Ohne diese Vermittlung geht es nicht. Gleichzeitig muss eine Gefühlsbildung in den ersten Lebensjahren geleistet werden, die sich nicht darin erschöpft, dem Kind die eigene Parteinahme, die eigene Sicht der Dinge beizubringen. Das Gespräch mit dem Kind soll dem Alter und der Realität angemessen sein.
Eltern ist zu wünschen, dass sie sich darüber Gedanken machen, wie es gelingen könnte, ihr Kind mit Gefühl und Verstand so auszustatten, dass es sich gegen die Destruktivität des Zeitgeistes immunisiert: gegen Drogen, gegen Gewalttendenzen in unserer Gesellschaft und gegen die Zerstörung der gegengeschlechtlichen Liebesbeziehung durch Perversitäten aller Art. Eine Lösung der Menschheitsprobleme. die das Wohl des einzelnen wie das der
Gemeinschaft ins Auge fasst, kann nur durch Menschen gewährleistet werden, deren Beziehungen zum Mitmenschen von Achtung, Toleranz, Respekt und Würde getragen sind.
Sie zu bilden — das ist die Bedeutung der Erziehung in unserer Zeit.
Dr. Barbara Hug
Die meisten Eltern gehen an die Erziehung mit der Vorstellung heran, es besser zu machen, als sie es mit ihren Eltern erlebt haben. Ihre eigene Erziehung haben sie als Zwang und Einschränkung ihrer Lebensgestaltung erfahren und möchten bei den eigenen Kindern einen möglichst freiheitlichen Erziehungsstil verwirklichen. Diesem an und für sich verständlichen Ansinnen der Eltern kommen die heute propagierten Erziehungsmodelle sehr entgegen. Selbstentfaltung, Selbstbestimmung des Kindes, uneingeschränkter Freiraum für das Kind sind Schlagworte, die ihren Ursprung in der 68er Bewegung haben und heute von vielen Eltern begeistert aufgenommen werden. Dies führte zu einer Laisser-faire-Mentalität in der Erziehung mit dem Resultat, dass wir heute viele Jugendliche haben, die infolge dieser verwöhnenden Erziehung kaum in der Lage sind, die täglichen Lebensaufgaben zu bewältigen. Sie fallen oft durch unkooperatives, ichbezogenes Verhalten auf. Ein harmonisches Familienleben, wie es sich die meisten Eltern, aber auch die Jugendlichen wünschen, ist nicht mehr möglich.
Die Laisser-faire-Mentalität widerspricht der Natur des Kindes. Wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen, dass jedes Kind auf seine Erziehungspersonen ausgerichtet ist und für eine gesunde Entwicklung eine klare Orientierung des Erziehers braucht Unglücklicherweise untergraben sogenannte Pädagogen und auch offizielle Erziehungsberatungsstellen mit irreführender Propaganda diese fundierten pädagogischen Erkenntnisse. Mit dieser verantwortungslosen Haltung Eltern und Jugendlichen gegenüber fördern sie die Orientierungslosigkeit in der Erziehungsfrage. Gebieten wir diesem Treiben nicht Einhalt, wird sich die heute beobachtete Verwahrlosung sowie Haltlosigkeit. Zukunftspessimismus und Gewalt unter Jugendlichen weiter verschärfen. Als Eltern haben wir die Erfahrung gemacht, dass auch in unserer modernen Zeit das Kind und der Jugendliche eine klare Anleitung und Führung brauchen. Das bedeutet, dass der Erzieher auch Nein sagen muss. Dies geschieht zum Wohl des Kindes und hat nichts mit falsch interpretierter Autorität zu tun. Die wirkliche Autorität des Erziehers liegt in seiner Fähigkeit, am Leben des Jugendlichen Anteil zu nehmen und ihn durchs Leben zu führen. Diese Begleitung setzt eine tragfähige, freundschaftliche Beziehung zwischen Erzieher und Kind voraus. Die Erziehung, wie wir sie hier beschrieben haben, ist eine grosse Herausforderung. die es unter Umständen nötig macht, sich die Unterstützung bei einer Erziehungsberatung zu holen, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse abstützt.
Erika Mühlethaler
Reinhard Koradi
Verein Jugendberatung 8000 Zürich
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